•  Umgebung Heizenholz

Bericht vom Stadtrand

Esther Spinner 

Die Schriftstellerin Esther Spinner lebte in der Kraftwerk1-Siedlung Hardturm, bis sie Anfang 2012 in die neue Siedlung Heizenholz umzog. Zuvor hatte sie vier Jahre lang an deren Planung mitgewirkt. Diesen Text hat sie im März 2012 geschrieben, als die Siedlung Heizenholz noch «Kraftwerk2» hiess, kurz nach ihrem Umzug aus dem partylastigen Kreis 5 an den stillen Höngger Waldrand.

Die Vögel vor dem Fenster: Meisen, Grünlinge, Eichelhäher. Und hausnah, blicknah die Birken, Tannen, Föhren. Nachts leuchtet mir der grosse Bär ins Bett, morgens die Sonne. Spaziergänge im Wald auf Kiefernnadeln, Trampelpfade durch moosigen Grund, so grün das Moos, dass ich am liebsten hineinbeissen möchte. Nur wenige Menschen, ich bin mit meiner kleinen Hündin, mit den Vögeln, Bäumen und Moosen fast allein. Manchmal die Motorsäge, wenn ich in die Nähe der Arbeiter komme, die den Wald lichten, hin und wieder ein Flugzeug, dazwischen Ruhe, der Geruch nach feuchter Erde, frisch geschlagenem Holz und Pferdedung. Spaziergänge ausserhalb dieser Welt, weltfern wie die autonome Wiese: eine Hütte, einige Bänke, Tische, Feuerstellen. Ein Verein besorgt das Grundstück, flickt die Fenster, die regelmässig eingeschlagen werden, stellt die Bänke bereit, auf denen ich sitze und in den Abend staune, der die Stadt in Rosa taucht und die Bergkulisse erglühen lässt. Seit 30 Jahren werden Hütte und Grundstück gepflegt von Menschen, die der 80er-Bewegung nahestanden, ein unerwartetes Stück Freiheit voller Primeln.

Beim Warten auf den Bus schaue ich zu, wie sich ein Pony und ein Pferd spielerisch mit den Schnauzen stupsen, während zwei andere wie tot auf dem Boden liegen, schaue hinunter zum Bauernhof, der von einem Verein betrieben wird. Kinder halten hier ihre Kaninchen und Geissen, die Leasing-Hühner werden von Vereinsmitgliedern betreut. Ein Huhn leasen kostet 120 Franken pro Jahr, dafür können pro Woche vier Eier bezogen werden. Ausser das Huhn ist so alt wie das meines Nachbarn, der nur drei Eier pro Woche bekommt. Werden die Eier noch weniger, wird das Leasing-Huhn zum Suppenhuhn.

Nistkästen und Einkauf

Auch die Limmat ist nicht weit: hinunter auf Quartierwegen zum Frankental, die Kreuzung überqueren, den Weg hinab, und schon glitzert sie vor mir, schon schlängle ich mich an Joggern vorbei, die über meine Hündin stolpern, werde fast überfahren von schnellen Fahrrädern. Ich steige wieder auf, gehe zurück auf den Berg, in die relative Ruhe des Hönggerwaldes, zurück zu Moos und Hütte, zum Bienenhaus, das schon summend umschwärmt wird, zu Insektenhotels und Vogelbruthäuschen, alle säuberlich nummeriert. Die Meise wohnt im 83, der Grünling im 56, eine genaue Ordnung ist nicht zu erkennen, auch nicht bei der Nummerierung der flachen Holzkästen, die den Fledermäusen als Unterschlupf dienen. Zurück zum Specht, der seinen Rhythmus schon morgens klopft und der, wie ich im «Höngger» lese, nicht etwa Würmer sucht im Baum, sondern aus Liebesgründen trommelt und sich dazu ein besonders wohltönendes Klangholz sucht.

Zurück auf den Berg, ins Quartier, das immerhin einen kleinen Coop und eine Bäckerei bietet, nur zwei Busstationen oder zehn Fussminuten entfernt. Für anderes fahre ich zum Meierhofplatz, wo ich Coop und Migros zur Auswahl habe, dazu drei Apotheken, eine Drogerie mit Reformhaus und einen Dritt-Welt-Laden mit Bioprodukten. Auch Einkaufen im Kraftwerk2 wird möglich. Ortoloco wird beworben, und eine Arbeitsgruppe eröffnet in wenigen Tagen ein Konsumdepot, natürlich keines wie an der Hardturmstrasse, ein kleines Depot nur, das Alltägliches abdecken soll wie Toilettenpapier, Tomatensauce und Teigwaren.

Lernen, kochen, festen

Schon zweimal hielten wir Hausversammlung im Gemeinschaftsraum, schon zweimal berichteten die Arbeitsgruppen. An der letzten Hausversammlung wählten wir den Hausrat, der für die Koordination im Haus zuständig ist und ähnliche Aufgaben haben wird wie die AG Info in der Siedlung Kraftwerk1. Mussten wir bei der ersten Sitzung noch die Stühle selbst mitbringen, war bis zur zweiten Versammlung der Aufruf der «Möbeltanten» so erfolgreich, dass wir alle sitzen konnten. Stühle, Tische, Geschirr: Leihgaben und Geschenke, so viele, dass der erste Circolo mit gut 20 Menschen problemlos stattfinden konnte. Gerne nehmen wir weiterhin grosse Töpfe, Besteck und Gläser entgegen. Schon wird der Kompost betreut, steht das erste Krimigestell, der Hol- und Bringtisch ist eingerichtet, ebenso die Gästewohnung, die ab und zu vermietet wird, sonst aber von allen genutzt werden kann. Auch ein Fest hat der grosse Gemeinschaftsraum schon gesehen, ein Konzert erlebt mit der Gruppe Schwarzes Schaf, der kahle Raum wundersam verwandelt durch ein paar farbige Lichter, verwandelt durch die Musik. Und die ersten Reklamationen haben wir hinter uns wegen des Festes und wegen Bohrens am Sonntag.

Wir werden lernen, miteinander zu leben, die verschiedenen Bedürfnisse zu respektieren und uns doch nicht gegenseitig einzuschränken. 62 Erwachsene sind wir, 8 davon über sechzig, dazu 19 1/2 Kinder, einige Hunde, Katzen und 2 Raupen in einem Terrarium. Die «Terrasse commune», die dem Projekt den Namen gibt, beginnt sich frühlingsgerecht zu beleben. Sie zieht sich vor dem neuen Mittelbau von Altbau zu Altbau und verbindet die beiden Treppenhäuser und die Menschen. Ein erster Apéro findet statt, Kinder üben sich im Treppenkriechen, es gibt alltägliche Begegnungen auf den Terrassen, den Treppen, ab und zu muss ich ein «like a bike» übersteigen oder einen Diabolo, mich vorbeidrücken an Gartentischen, da und dort grüssen und stehen bleiben, ein kurzer Schwatz über die schon erblühten Osterglocken und den nächsten Circolo. Noch kennen sich nicht alle im Haus, an den meisten Türen hängen Fotos, damit man sich eine Vorstellung von der Nachbarin oben und vom Nachbarn nebenan machen kann.

Nun sind wir da

Vier Jahre dauerte der sogenannte partizipative Prozess, vier Jahre lang trafen wir uns in der Begleitgruppe, diskutierten Wohnvorstellungen, listeten Wünsche auf von Gästezimmer über Gartenbeete bis zu Sauna und Massageraum, besprachen den vorgeschlagenen Wohnungsmix, diskutierten Mobilitätskonzepte und informierten uns über das Quartier. In diesen vier Jahren wechselten die Menschen in der Begleitgruppe ständig, nicht einfach war es, Beziehungen einzugehen. Nur wenige sind wir, die seit dem Anfang dabei und jetzt tatsächlich eingezogen sind. Erst im letzten Jahr hat sich eine konstantere Gruppe gebildet. Und nun sind wir da, dürfen und müssen miteinander, ich freue mich, die eine oder den anderen anzutreffen beim Gang in die Waschküche oder zum Briefkasten. Manchmal vermisse ich die vertrauten Gesichter von der Hardturmstrasse, ganz besonders vermisse ich meine Nachbarin, den frischen Zopf am Sonntagmorgen, den Magnolienbaum an der Ecke der à-Porta-Stiftung, die Gespräche im Tram. Jetzt plaudern wir im Bus, entweder auf der Fahrt zum Central oder auf der Fahrt zum Stadtrand. Jetzt sind wir da. Die Kinder haben sich gefunden, spielen miteinander, und bewerben im Treppenhaus ihr eben eröffnetes Geschäft: «Wir haben einen Terassen Puzdienst zusammengestelt und wenn sie anrufen können sie anrufen auf Nr. xxx nur für KW2 Bewoner 1 Fr pro Grossterasse 1/2 Fr pro Kleinterasse.» Unterzeichnet ist das Inserat professionell mit «plf-Puzdienst», wobei die Buchstaben für die Namen stehen.

Jetzt sind wir da. Wir zeigen einander die Wohnungen und klönen über das, was uns nicht gelungen scheint. Doch die Wohnungen sind grosszügig, hell, die Böden pflegeleicht. Das ist schön. Vieles ist schön. Das Allerschönste aber ist der Zauber des Anfangs, der einen Glanz über den Alltag legt. Zum ersten Mal wird auf der kleinen Terrasse unter meinem Fenster ein Tisch geschreinert, zum ersten Mal sitzt einer unter dem Kirschbaum auf der Wiese und liest, werden Blumenkistchen angepflanzt und befestigt, zum ersten Mal trinke ich ein Glas Wein auf der Terrasse bei Sonnenuntergang. Alles zum ersten Mal in diesem neuen Leben, an diesem neuen Ort, bald auch der Gang in den Keller ins Konsumdepot für ein Glas Salzgurken oder Oliven. Alles ist neu, alles glänzt, ist aufregend anregend. Davon abgesehen ist das Leben am Stadtrand genau wie anderswo, nur ein bisschen angenehmer.