•  Siedlung Hardturm, Dach

Moose bestimmen

Andrea Hobi, Pas De Deux Kommunikation, Zürich 

Seit 100 Jahren trennen die Stadtplaner Wohnen und Arbeiten in verschiedene Gebiete. So entstanden zwei absurde Dinge: reine Wohnquartiere und das Pendeln – beides ebenso langweilig wie un-nachhaltig. Doch in den Kraftwerk1-Siedlungen wird wieder gemischt, was zusammengehört. Ein Arbeitstag in der Siedlung Hardturm, beschrieben im Jahr 2007, als die Siedlung noch «Kraftwerk1» hiess.

Sie kommen morgens, mittags oder auch später. Sie kommen mit dem Velo, dem Tram, zu Fuss oder im Auto. Die einen legen längere Arbeitswege zurück, andere bewegen sich lediglich vom Ess- zum Arbeitstisch in ihrer Wohnung. Im Kraftwerk1 wird mehr als gewohnt. Über hundert Personen arbeiten in der Genossenschaftssiedlung. Wie sieht der Kraftwerk1-Alltag für die Erwerbstätigen aus?

Morgen, Hardturmstrasse 261, Geschäftshaus B1

Um 5.30 Uhr schon hat die Floristin des Blumengeschäfts Deux Luxe West an der Blumenbörse in der Agglomeration Nachschub für den bevorstehenden Tag eingekauft. Ab 7.00 Uhr müssen die Blumen im Geschäft für den Verkauf bereit sein. Etwa zur gleichen Zeit öffnet eine Kauffrau die Tür zum Bürotrakt des Hauses. Das Gebäude gleich nebenan, in dem sie zuvor tätig war, wurde umgebaut. Deshalb hat sie sich im neuen Geschäftshaus der Genossenschaftssiedlung eingemietet. Die gute Lage und dass ihre Stammkunden die Adresse schon kannten, ist für sie ein Vorteil.

Abgesehen vom Lärm des Verkehrs in Richtung Stadt ist es noch recht ruhig in der Umgebung von Kraftwerk1. Das Team der Brasserie Bernoulli rüstet sich für den Tag. Um 6.45 Uhr wird der erste Kaffee gebraut, vorerst für das Personal. Um 7.30 Uhr treffen die ersten Gäste ein, meist Anwohner, etwas später dann verschiedene Handwerker. Draussen entleeren sich kurz vor 8.00 Uhr nach und nach die Trams, die vielen Arbeitenden trudeln ein. Der Coiffeursalon 5 öffnet für seine Kunden. Der Tag im Geschäftshaus der Siedlung Kraftwerk1 hat begonnen.

Morgen, Hardturmstrasse 269, Haus A

Im Haus A, dem grössten Haus der Siedlung, finden sich vor allem Wohnungen, aber auch hier wird gearbeitet. Der Übersetzer sitzt bereits seit 5.30 Uhr vor dem Computer. Seine morgendliche Arbeitszeit dauert noch bis um 9.30 Uhr. Danach ist eine Pause angesagt. Auch in den anderen Wohnhäusern geht es allmählich ans Arbeiten: Der Angestellte für die Reinigung der Siedlung etwa beginnt mit dem Staubsaugen der Gänge. Oder er nimmt sich den Waschsalon mit den acht Waschmaschinen und sechs Tumblern vor, die allwöchentlich einer gründlichen Reinigung bedürfen.

Der Übersetzer gehört zusammen mit dem Moosforscher und der Autorin zu denjenigen mit den kürzesten Arbeitswegen. Sie alle nehmen nämlich im Verlauf des Morgens ihre Tätigkeit in ihren Wohnungen auf. Sie leben mit den Vor- und Nachteilen, die das Arbeiten in der eigenen Wohnung mit sich bringt: mit der Freiheit, den Arbeits-Lebens-Rhythmus selbst zu bestimmen, ebenso wie mit dem Risiko, abgelenkt zu werden oder sich ablenken zu lassen. Ist der fehlende Wechsel vom Wohn- zum Arbeitsort Chance oder Falle?

Eine Landschaftsarchitektin und ein Informatiker arbeiten ebenfalls im Wohnhaus A, wohnen jedoch auswärts. Sie treffen mal früher, mal später in ihren Ateliers im Erdgeschoss ein. Die Landschaftsarchitektin schätzt den Wechsel zwischen Wohn- und Arbeitsort. Grosse Fenster erlauben den freien Blick auf den Vorplatz. Dadurch entstehen zwar nicht häufiger Gespräche als in einem anderen Büro. Die kleinen Kontakte – ein kurzes Winken oder ein «Hallo, wie geht es?» – sind für sie jedoch wertvoll.

Mittag, Geschäftshaus B1

Der Arbeitstag nimmt seinen Lauf. Für viele, die von 8.00 bis 12.00 Uhr arbeiten, steht jetzt die Mittagspause an. Sie verbringen diese Zeit zu Hause, in der Brasserie Bernoulli oder an der nahen Limmat. Einige bereiten ihr Mittagessen in der Küche des Geschäftshauses zu. Die kleine Gemeinschaftsküche wird vor allem mittags rege benutzt, bietet jedoch Arbeitenden mit flexiblen Arbeitszeiten die Möglichkeit, sich jederzeit zu verpflegen. Sie ist der Ort für einen kurzen Schwatz. Der Austausch findet sonst vorwiegend innerhalb der Bürogemeinschaften und auf den Gängen statt. Man hilft sich mit Auskünften, Material oder mit Support.

Ergeben sich nebst diesen interdisziplinären Gesprächen bei der Arbeit in Kraftwerk1 auch wirkliche Synergien? Ist das einer der Gründe, warum sich jemand in dieser Siedlung einmietet?

Mittag, Haus A

Der Tagesablauf der Autorin und Kursleiterin, die in ihrer Wohnung arbeitet, ist klar strukturiert. Nach der ersten Arbeitsphase in der Wohnung und dem Spaziergang mit ihren zwei Hunden macht sie um 12.00 Uhr Mittagspause. Danach folgt, bevor sie um 14.00 Uhr das Büro wieder «öffnet», die Mittagsschlaf-Lesen-Phase. Sie schätzt die Erwerbstätigkeit zu Hause, weil sich durch das Zusammenlegen von Wohnen und Arbeiten sämtliche Bücher und Unterlagen am selben Ort befinden. Sie kann sie jederzeit nutzen – wenn nötig auch nachts.

Auch für den Moosforscher ist es von Vorteil, alle Arbeitsunterlagen an einem Ort vorzufinden und seine Arbeitszeit flexibel einteilen zu können. Der Biologe hat seinen Vormittag in der Regel mit dem Bestimmen von Moosen oder dem Auswerten von Datenbanken verbracht. Um 12.00 Uhr gibt es eine Arbeitspause – keine wirkliche Pause, denn er widmet sich von nun an seiner Tochter und erledigt den Haushalt. In der Nacht wird er dann seine Forschungsarbeit wieder aufnehmen.

Der Informatiker im Erdgeschoss hat sich vor einiger Zeit entschieden, seinen Arbeitsplatz von zu Hause in ein Büro in der Siedlung Kraftwerk1 zu verlegen. Denn Arbeiten und Wohnen im selben Haushalt entsprach nicht mehr seinen Bedürfnissen. Das separate Büro bietet ihm nun die Möglichkeit, Kunden zu empfangen.

Arbeiten innerhalb der eigenen vier Wände: Leiden, trotz aller Vorteile, die Sozialkontakte darunter? Ist es deshalb notwendig, diese gezielter zu suchen, vielleicht mit einem Mittagessen ausserhalb der Siedlung?

Nachmittag, Geschäftshaus B1

In der Brasserie Bernoulli hat sich die Gästeschar gelichtet. Die Tische werden abgeräumt. Nach der stürmischen Mittagszeit kehrt Ruhe ein. Das Team setzt sich zum gemeinsamen Mittagessen.

In den Etagen darüber startet derweil ein Teil der Arbeitenden in die zweite Tageshälfte. Andere treffen jetzt erst ein. Sie haben ihre Arbeitszeiten bewusst so gewählt oder extern Aufträge präsentiert und kehren nun an ihren Arbeitsort zurück. Im Coiffeursalon 5 im Erdgeschoss werden noch bis 18.30 Uhr Haare geschnitten, gefärbt, geföhnt. Eine Coiffeuse trägt gebrauchte Handtücher ins Wohnhaus A hinüber, sie nutzt dort den Waschsalon. «Arbeitende aus verschiedenen Branchen sollen die gemeinsame Infrastruktur nutzen können» – so ist es in der Kraftwerk-Charta festgehalten.

Abend – Nacht, Geschäftshaus B1

In der Brasserie treffen die Abendgäste ein. Nebenan bei Deux Luxe West bereiten die Floristinnen Bestellungen, Sträusse und Fruchtkörbe für den nächsten Tag vor. Während der Blumenzeit wird durchaus einmal bis 23.00 Uhr gearbeitet, die Reinigung des Geschäfts folglich auf später verschoben. Noch später wird es in der Brasserie. Sobald die letzten Gäste um 24.00 Uhr heimgehen, räumt das Abendteam auf, putzt Küche, Tische und den Tresen. Vielleicht sieht gerade um diese Zeit eine Bewohnerin des Hauses A noch Licht in einem Büro von B1 – ein Grafiker brütet dort bis spät über seinem Projekt.

Abend – Nacht, Haus A

Die Landschaftsarchitektin, der Moosforscher, der Übersetzer, die Autorin: Sie alle arbeiten abends mal mehr, mal weniger lang. Der Angestellte für die Reinigung hat seine Arbeit beendet, es sei denn, ein Spezialeinsatz stehe an. Seine Flexibilität ist beim Konzept «Wohnen und Arbeiten am gleichen Ort» ebenso gefragt wie die der Mitarbeitenden der Geschäftsstelle der Genossenschaft im Erdgeschoss von Haus A.

Abend – Nacht, Haus B3

Im Wohnhaus B3 leben acht Menschen mit Behinderungen in zwei Wohngruppen. Die Betreuerinnen der Stiftung Altried gehören auch zu den Arbeitenden in der Siedlung. Sie haben ihre Tätigkeit um 16.00 Uhr aufgenommen. Ihre Arbeit in den Wohnungen dauert bis 22.00 Uhr. Während dieser Zeit begleiten sie die Menschen mit Behinderungen durch den Abend, unterstützen sie bei der Organisation der Hausarbeiten und der Gestaltung der Freizeit.

Nacht, Haus A

Gegen 4 oder 5 Uhr morgens, wenn in der Brasserie nebenan das Reinigungspersonal bereits die Arbeit aufnimmt, bestimmt der Moosforscher in seiner Wohnung weitere Moose. Draussen fahren die ersten Lieferwagen stadtein- und auswärts. Und höchstwahrscheinlich macht sich in einer der Wohnungen der Siedlung Kraftwerk1 eine übermüdete Mutter oder ein schlaftrunkener Vater auf den Weg zum Zimmer eines weinenden Kindes. Gehören auch sie zu den Arbeitenden?